ich komme nicht mehr an mein Kind ran

Ich komme nicht mehr an mein Kind ran, stellen viele Eltern fürher oder später fest.

Wer schon öfters bei mir auf dem Blog gelesen hat, ist dem Wort „Gleichaltrigenorientierung bestimmt schon mal begegnet.

Geprägt wurde der Begriff von Gordon Neufeld, einem kanadischen Entwicklungspsychologen. Er hat ein ganzes Buch zu dem Thema geschrieben:

„Unsere Kinder brauchen uns“ oder in Englisch „Hold on to your kids“.

Leider wird das Thema sehr oft missverständlich interpretiert, meist von Menschen, die sich nicht ausgiebig mit der Thematik beschäftigt haben. Seitdem ich verstanden habe, um was es dabei geht, begegnet mir diese Problematik an jeder Ecke.

Wie so oft, wenn man endlich mal ein Wort für etwas Offensichtliches hat, nimmt es Gestalt an. Es geht dabei nicht darum, dass Kinder keine Freunde brauchen oder dass die Eltern sich ständig in alles einmischen sollten.

Ich bin so froh, wenn die Freundin meiner Kleinen die Rolle von Bibbi oder Amadeus einnimmt und ich gelassen zuschauen darf, während die beiden auf dem Boden herumkrabbeln und „Hüüüüüa“ kreischen. Viele Dinge können Kinder einfach besser mit Kindern. Obwohl, wenn wir Erwachsenen uns mal auf das Spiel einlassen und komplett eintauchen, kann das auch für uns ganz neue Welten eröffnen, sogar die ein oder andere Wunde heilen.

Das Problem mit der Gleichaltrigenorientierung entsteht viel eher dann, wenn die Gleichaltrigen zur Orientierung dienen und in Konkurrenz zu der Kind-Eltern Beziehung stehen.

 

Ganz leicht zu greifen, wenn man sich die Frage stellt: „Zu wem geht mein Kind, wenn es ein ernsthaftes Problem hat? Kommt es zu mir oder vielleicht einem Lehrer, einer Tante oder einem Onkel oder bespricht es seine Sorgen vor allem mit seinen Freunden?“

Orientiert es sich in neuen Situationen an anderen Kindern oder eben an Erwachsenen?

Was dabei herauskommt, wenn Kinder wirkliche Probleme mit Freunden besprechen, die genauso wenig Erfahrung und Weitsicht haben, wie sie selbst, kann sich jeder vorstellen.

Leider beobachte ich immer mehr Kinder, die sich an ihren Mitschülern, Freunden und Kumpels orientieren, anstatt sich am Lehrer, den Eltern und den Erwachsenen in ihrem Leben zu orientieren.

 

Letztens habe ich viel Zeit mit einer Mama und ihrem fast 2-Jährigen verbracht. Meine Tochter, fast 5 war auch dabei. Sie übernahm ganz natürlich die fürsorgliche Rolle für den 2- Jährigen und achtete darauf, dass es ihm gutgeht.

Was mich wirklich verstört hat, war die starke Fixierung, die der Kleine ziemlich schnell zu meiner Tochter aufgebaut hat. Seine Mama und ich waren außen vor.

Er orientierte sich tatsächlich an meiner Kleinen. Nun werden manche sagen, dass es normal ist, dass Kinder den Großen alles nachmachen. Ja, zu einem gewissen Grad mit Sicherheit. Der Kleine hat sich aber komplett an meiner Tochter orientiert, ist ihr hinterher, egal wohin und schaute sich nicht mal nach mir oder seiner Mutter um.

Für mich war es ganz schwierig, eine Verbindung zu ihm aufzubauen. Er aß nur, wenn meine Tochter ihn fütterte, ließ sich aber von seiner Mama nicht mehr füttern.

Nachdem ich den Hintergrund des kleinen Mannes erfuhr, nämlich, dass er von klein auf (ab 6 Monaten) in der KiTa ist, und zwar oft bis 17 Uhr und nachdem ich dann noch den Betreuungsschlüssel erfuhr, wurde mir klar, wieso der Junge so sehr auf meine Tochter fixiert ist.

Er ist es gewohnt, mit Kindern zusammen zu sein und dass die Erwachsenen eben da sind, aber nicht im Mittelpunkt stehen. Etwa so wie Planeten, die um sich selbst, anstatt um die Sonne zu kreisen.

Ein Kind, das so früh so viel Zeit mit anderen Kindern verbringt, ist nicht zwangsläufig an Gleichaltrigen orientiert. Es bedarf aber eines sehr großen Einsatzes der Erzieher*innen, um eine gesunde Bindung an sich zu ermöglichen.

Ich stelle mir das bei den meisten Betreuungsschlüsseln und den Zuständen in vielen Betreuungseinrichtungen sehr schwierig vor.

Dies ist kein Artikel gegen eine Betreuung unter 3 Jahren. Vielmehr eine Betrachtung dessen, was Kinder bräuchten, um sich eben nicht an Gleichaltrigen zu orientieren.

 

Kinder, die sich an Gleichaltrigen orientieren sind ungeschützt den täglichen Verletzungen ausgeliefert. Ihnen fehlt der Schutz durch die Bindung an ihre Eltern.

 

Denn wenn die Meinung der Eltern wichtiger ist als die der anderen Kinder, dann kann ein Kind nicht so leicht verletzt werden.

Denn es weiß zu jeder Zeit, dass es für seine Eltern genau so richtig ist, wie es ist. Fehlt dieser Schutz, hat es das Herz des Kindes schwer, weich und offen zu bleiben. Diese Kinder müssen sich gegen die alltäglichen Verletzungen schützen.

Ich hatte letztens dazu einen Aha-Moment:

Ein paar Kinder auf der Straße haben meine Tochter ausgegrenzt und ihr gesagt, dass sie nicht mitspielen darf, weil sie zu langsam sei. Ihre Antwort erhobenen Hauptes war: „Das stimmt nicht, für meine Mama bin ich schnell!“

Sie war danach gekränkt und ist zu mir gekommen und hat Trost gesucht. Alarmierend wäre es, wenn sie solche Sprüche kalt lassen würden. Dann würde ich genauer hinschauen, um zu sehen, ob sie vielleicht bereits verletzliche Gefühle wegpanzert. So lange sie die Traurigkeit spüren kann, weiß ich, wird die Natur die Reifung voranbringen.

 

Bei vielen gleichaltrig-orientierten Kindern verschwinden die verletzlichen Gefühle.

 

Sie haben keinen Zugang zu ihrer Trauer, spüren kaum Scham und wirken cool. Wenn ein Kind ständig Desinteresse bekundet und der Satz „Mir doch egal!“ zum Standardrepertoire gehört, lohnt es sich vielleicht, genauer hinzuschauen. Denn fehlen bestimmte Gefühle, kann das Kind nicht weiter reifen.

Diese Kinder sind oft schwierig anzuleiten. Es ist ihnen häufig egal, was Lehrer oder Eltern sagen.

Die Clique gibt die Richtung vor und alles, was von Erwachsenen kommt scheint ihnen egal zu sein. Das Zusammenleben und Unterrichten wird nicht selten zu einer großen Herausforderung.

Sie orientieren sich nicht mehr an den Werte der Erwachsenen, sondern an den der Freunde. So ist es ihnen fast unmöglich, ihre eigenen zu entwickeln. Sie reden gleich, ziehen dieselben Klamotten an und geben sich große Mühe, keine wunden Punkte erkennen zu lassen. Bloß nicht auffallen, gleich sein, um dazuzugehören.

Es braucht eine starke Bindung an eine erwachsene Person, die das Kind bedingungslos annimmt, damit kleine Menschen ihre eigene Persönlichkeit voll entfalten können.

Es ist nie zu spät, das Thema mit den eigenen Kindern anzugehen. Oder auch mit den uns anvertrauten Kindern. Sicher ist es nicht einfach, diese Dynamik umzukippen und die Kind-Eltern Bindung wieder an oberste Stelle zu stellen, aber es ist es wert.

Letztens beklagte sich eine Mama bei mir, dass sie für ihre 4-Jährige nicht mehr erste Wahl sei. Das tut der Mama schrecklich weh, sie verstand aber das Thema dahinter nicht. Gerade bei so kleinen Kindern lässt sich das Ganze noch einfacher beeinflussen. Je älter die Kinder, desto herausfordernder.

Bei uns gibt es Familiennachmittage und ich lehne ganz bewusst auch mal Spieletreffs ab.

Ich verbringe sehr viel Zeit mit meiner Tochter alleine in der Natur und reduziere die Zeit mit Gleichaltrigen ganz bewusst, wenn ich das Gefühl bekomme, dass unsere Beziehung schwierig wird. Auf dem Spielplatz am Nachmittag bin ich meist involviert und sitze nicht abwesend auf der Bank herum. Es geschah ganz schnell, dass sich auch fremde Kinder an mich wandten. Auch die Schulkinder unserer Nachbarschaft gesellen sich regelmäßig zu uns.

 

Ja, einerseits genießen sie die Freiheit, alleine die Welt erkunden zu können. Andererseits sind sie froh, wenn sie eine erwachsene Ansprechperson haben. Einen Mittelweg zu finden sollte das Ziel sein.

 

Ganz besonders beliebt sind bei uns herausfordernde Unternehmungen, in denen sich meine Kleine auf mich verlassen muss. Das bringt uns immer wieder ein Stückchen näher zusammen und festigt unsere Bindung.

Gestern haben wir den Tag auf einem Reiterhof verbracht. Sie ist dabei um 3 cm gewachsen. Ihre anfängliche Angst konnte sie relativ schnell überwinden und wir hatten richtig Spaß und wollten gar nicht mehr nach Hause.

Oft versuchen Eltern ihren Kindern durch Gruppenzwang die Angst zu nehmen. „Schau mal, Max fährt doch auch schon Fahrrad, wieso traust du dich denn nicht?“

Mehr Druck kann man wohl nicht auf die Schultern eines Kindes legen, das gerade vor einer neuen Situation Angst hat. Unzählige Male erlebt diesen Sommer (vor allem im Schwimmbad), nicht mein Weg.

 

Für mich sind Situationen, die meiner Tochter Angst machen, Möglichkeiten, unsere Bindung zu stärken.

 

Wenn Freundinnen zu Besuch sind, finde ich es wichtig, dass die Besucherkinder auch eine Bindung zu mir aufbauen und zu mir kommen, wenn sie etwas brauchen.

Ich mag es überhaupt nicht, wenn die zwei den ganzen Tag mit sich verbringen und merke auch, dass diese Tage ganz schwierig werden. Denn dann lässt sich meine Kleine auch nichts mehr von mir sagen und alles läuft aus dem Ruder.

Da ich die Orientierung an Gleichaltrigen sehr häufig beobachte war mir dieser Artikel einfach wichtig. Ich kann hier leider nicht die ganze Problematik aufführen, aber vielleicht konnte ich einige der Leser für das Thema sensibilisieren.

Vielleicht geht es dir genauso wie mir, dass du nun Situationen ganz anders bewertest. Das ist so wie wenn man schwanger ist. Plötzlich sieht man überall Schwangere. Seitdem meine Tochter und ich immer spielen, wer sieht das nächste Cabriolet, fällt mir erst auf, wie viele Cabriolets es tatsächlich gibt.

 

Genauso ging es mir mit der Gleichaltrigenorientierung. Ich sehe sie an jeder Ecke.

 

Und auch ich war zeitweise zumindest gleichaltrigen-orientiert – es wäre um einiges einfacher gewesen, wenn dies anders gewesen wäre. Es ist einfach mittlerweile so normal für uns geworden, dass unsere Kinder uns früher und früher durch Freunde ersetzen. Wir sollten dabei nie vergessen, dass unsere Kinder uns brauchen, auch mit 15, 16 oder 35.

Und damit meine ich nicht, dass wir ständig mit unseren Kindern zusammenhängen sollten. Wir sollten aber die sein, zu denen sie kommen, wenn sie wichtige Fragen oder Probleme haben.