Hast du auch so ein willensstarkes Kind? Hörst du auch oft den Satz: „Er weiß schon genau, was er will!“ Mein Kind ist so stur – höre ich immer wieder.

Auf die Gefahr hin, dass Menschen mit sogenannten willensstarken Kindern sich nun auf die Füße getreten fühlen: für mich gibt es keine willensstarken Klein- und Vorschulkinder. Kann es gar nicht geben.

 

„Als Wille bezeichnet man die dem bewussten Handeln zugrundeliegende Fähigkeit, sich bewusst von Beweggründen für einen bestimmten Handlungsweg oder eine bestimmte Handlungsart zu entscheiden.“ (Fröhlich, 1993, S. 433)

In allen Definitionen zum Thema „Wille“ steht das rationale Handeln im Vordergrund.

 

Das Handeln von Klein- und Vorschulkindern ist sehr selten bewusst und noch viel seltener folgt es einer Entscheidung. Impulsgetrieben und unüberlegt trifft es besser.

Gefühlsstarke Kinder erscheinen uns wahrscheinlich eher als willensstark, als Kinder, die vielleicht nicht ganz so intensiv fühlen.

Wieso ist es mir nun so wichtig, den Unterschied klarzumachen? Wenn wir verstehen, dass Klein- und Vorschulkinder nicht rational entscheiden, was sie tun, dann sehen wir sie mit anderen Augen.

Wir hören endlich auf, sie mit Erklärungen zu überfordern und holen sie da ab, wo sie stehen.

Kleine, liebenswerte Menschen, die von ihren Emotionen bewegt, allzu oft überwältigt werden.

Kleine Wesen, die immer nur eine Emotion zur selben Zeit wahrnehmen können und deshalb weder abwägen, noch ihre Impulse nennenswert kontrollieren können.

Sie werden von einem Gefühl überrannt und das ausgleichende Gefühl, mit dem sie ihre Impulse kontrollieren könnten, kann nicht gleichzeitig wahrgenommen werden.

Bei von Emotionen angetriebenem Verhalten von einem starken Willen zu sprechen vermittelt schlichtweg ein falsches Bild. Das Kind entscheidet nicht, dass der verwehrte Keks nun das Ende der Welt bedeutet und einen halbstündigen Frustrationsausbruch mit sich bringt. Es geschieht ihm.

 

10 Dinge, die du über Klein- und Vorschulkinder wissen solltest:

  1. Sie können immer nur eine Emotion gleichzeitig wahrnehmen. Ein Abwägen, ist somit nicht möglich. Sie handeln aus EINEM Gefühl heraus.
  2. Sie können Probleme nicht gut lösen, da sie nicht mehr als einen Faktor gleichzeitig berücksichtigen können.
  3. Außerdem sind sie ziemlich unzuverlässig. Meist wissen sie es besser als sie vorgeben. Ihre guten Absichten rücken ganz schnell in den Hintergrund, sobald ein anderes Gefühl in den Vordergrund tritt.
  4. Sie haben immer eine gute Absicht. Das heißt aber nicht, dass sie immer schaffen, ihre guten Absichten in die Tat umzusetzen.
  5. Junge Kinder sehen Fairness nur aus einer Perspektive, nämlich ihrer eigenen. Unfair ist, wenn sie nicht das größte Stück des Kuchens abbekommen.
  6. Wenn sie auf ein Ziel zusteuern bleibt alles andere unberücksichtigt.
  7. Sie wägen ihren Standpunkt nicht mit der Realität ab.
  8. Sie funktionieren nach dem Prinzip „Spiel“ und nicht nach dem Prinzip „Arbeit“. Sie können für ein Ziel keine „Opfer“ bringen. Somit sind sie auch kaum in der Lage, zu warten. Denn wieso auf etwas warten, das sie sofort haben können.
  9. Wenn nötig, können junge Kinder ganz schnell abgelenkt werden, in dem wir das vorherrschende Gefühl „austauschen“. Sollte wirklich nur in äußersten Notfällen Gebrauch finden, um das Kind vor noch mehr Verletzungen zu schützen, zum Beispiel in öffentlichen, für das Kind sehr unangenehmen Situationen. Ansonsten ist ein Begleiten des Gefühls sicher der bessere Weg.
  10. Sie sind impulsiv und handeln nicht bedacht.

 

Gemischte Gefühle

Einen echten Willen zu haben setzt voraus, dass wir mehr als ein Gefühl, mehr als einen Faktor gleichzeitig betrachten können.

Dazu sind wir erst in der Lage, wenn das Mischen der Gefühle in der präfrontalen Hirnrinde möglich ist. Dies beginnt selten vor dem 5. Lebensjahr, oft jedoch später. Erwachsene verlieren ihre Mischung, wenn alles zu viel ist oder sie unausgeschlafen sind. Von Kindern zu erwarten, dass sie in dem zarten Alter dazu in der Lage sind, ist einfach unrealistisch.

Das Mischen von Gefühlen kann man vorleben und auch „üben“. In dem ich über meine gemischten Gefühle spreche wird mein Kind sensibilisiert. Oder eben in dem ich das ausgleichende Gefühl bei meinem Kind hinzufüge.

„Einerseits würdest du so richtig gerne auf diesen Turm klettern, andererseits hast du echt Angst davor.“ „Einerseits bist du gerade so frustriert und würdest mich am liebsten schlagen. Aber du liebst mich auch und willst mir nicht wehtun.“

Oder als sich die ersten gemischten Gefühle meiner Tochter ankündigten: „Mama, eigentlich will ich nicht alleine auf dem Geburtstag bleiben aber andererseits will ich unbedingt dorthin, weil es bestimmt lustig wird! Ich gehe trotzdem, obwohl ich nicht will.“

 

Gegenwillen ist kein Wille

Sondern lediglich das Gegenteil von dem, was von mir erwartet wird. Über den Gegenwillensinstinkt, der sehr häufig mit Autonomiestreben verwechselt wird, habe ich in diesem Artikel geschrieben.

 

Sturköpfe gibt es nicht

Unter Berücksichtigung dieser Faktoren kann nun wirklich nicht von willensstarken Kindern gesprochen werden. Es stellen sich mir die Haare zu Berge, wenn Eltern von ihren „Sturköpfen“ oder „Dickköpfen“ sprechen, meist in einem eher resignierenden oder abfälligen Ton.

Klein- und Vorschulkinder können keine Sturköpfe sein, das geht nicht. Sie entscheiden nicht, etwas zu tun, sie werden dazu von einer vorherrschenden Emotion getrieben.

Wenn wir das verstehen nehmen wir endlich Abschied davon, Kindern eine Absicht zuzuschreiben. Vielleicht gelingt es Eltern dann auch besser, ihre Kinder mit all ihren Emotionen, egal wie stark diese auch sein mögen, zu begleiten.

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