„Mein Kind ist bösartig,“ hat mir ein Papa letztens besorgt gesagt.
Bei jeder Diskussion zu Erziehungsfragen kommt früher oder später das Tyrannenargument.
Sei nicht zu weich, sonst turnt dir dein Kind auf der Nase herum. Dein Kind ist bösartig!
Dein Kind tyrannisiert dich! Dein Kind ist der Boss! Das darfst du dir nicht gefallen lassen! Du musst härter durchgreifen!
Was, nachdem es sich so verhalten hat, nimmst du es noch in den Arm?
Dein Kind braucht Grenzen!
Der Schrei nach Grenzen!
Ständig ist irgendwo zu lesen, dass es so viele Kinder gibt, die sich angeblich wie Tyrannen aufführten.
Erklärungen dazu, wie tyrannisches Verhalten tatsächlich entsteht, findet man selten.
Es gibt Mutmaßungen und angeblich feststehende Tatsachen, was diese Verhaltensformen bei Kindern hervorruft.
Ich muss zugeben, dass ich mich auch nicht weiter dazu belesen habe, da es bei mir eine riesige Wut hervorruft, wenn ich lesen muss, dass Eltern härter sein müssen und sich mehr durchsetzen müssen, wenn sie nicht wollen, dass ihre Kinder zu Tyrannen werden.
Diese Ratschläge lassen völlig außer Acht, dass die richtige Bindung vom Kind zum Erwachsenen uns überhaupt erst ermöglicht, die Kleinen ins Leben zu begleiten.
Der Begriff „Tyrann“ lässt mir bereits die Haare zu Berge stehen. Die Definition, die mir als erstes ins Auge gefallen ist, lautet: „autoritäre Person, die ihre Stellung, Macht dazu missbraucht, andere, besonders Abhängige, Untergebene, zu tyrannisieren“.
Längst haben wir das Menschenbild vom bösen Kleinkind, das erst noch zum guten Menschen erzogen werden muss überwunden, so hoffte ich, bis vor kurzem zumindest. (bis der Film „Elternschule“ in die Kinos kam)
Dennoch gibt es noch viele Praktiken, die darauf abzielen, diese Kinder schnell wieder zum Funktionieren zu bringen.
Wollen wir diese Verhaltensweisen und Dynamiken umkehren, müssen wir erstmal verstehen, wie diese entstehen. Was liegt darunter?
Ohne die Wurzel zu verstehen, kann dem Kind nicht geholfen werden.
Es braucht keine Ansätze und Programme dafür. Es braucht Einsichten.
Viele der vorherrschenden Ansätze bringen keine Besserung, sondern verschlimmern die darunterliegenden Probleme.
Ohne Einsicht keine Veränderung.
Leider suchen wir meist nach schnellen Lösungen. Hauptsache das Kind funktioniert innerhalb kurzer Zeit. Verstanden, was das Kind tatsächlich benötigt haben wir dann aber noch nicht und für diese schnelle Verbesserungen zahlen wir einen hohen Preis. Die Reifung des Kindes.
Gordon Neufeld bringt Tyrannenkinder mit zwei Ursachen zusammen. Um tyrannischem Verhalten Raum zur Entstehung zu geben müssen beide Faktoren gegeben sein.
Diese Kinder haben zumindest zeitweise den Zugang zu ihren verletzlichen Gefühlen verloren und sind zusätzlich in der führenden Rolle. Sie fühlen sich für alles zuständig und geben den Ton an.
Einer alleine führt zu anderen Verhalten und möglichen Schwierigkeiten.
Zuerst müssen wir den Gedanken zulassen, dass Beziehungen immer hierarchisch sind, von Natur aus.
Das ist so. Diese Hierarchie ist aber nicht dazu gedacht, dass jemand beherrscht wird, was viele in diesem Zusammenhang zusammenzucken lässt.
Es geht dabei um das Versorgen und um das Umsorgt werden.
Das Kind nimmt – der Erwachsene gibt.
Das Kind wird umsorgt – der Erwachsene versorgt.
Das Kind lässt sich in der Beziehung fallen und kommt zur Ruhe – der Erwachsene übernimmt die Verantwortung für die Beziehung.
Das kurz und knapp. In der Vergangenheit wurde ich für den Begriff „Alpha“ kritisiert. Allerdings bedeutet Alpha in diesem Zusammenhang eben, die fürsorgliche, versorgende Rolle gegenüber dem Kind einzunehmen.
Der Fels in der Brandung, der etwas Beruhigendes ausstrahlt und ohne viele Worte vermittelt „ich kümmere mich um dich, ich weiß, was zu tun ist.“
Darüber ließe sich schon alleine ein Buch schreiben. Diese Haltung kann man nicht lernen, man kann sie in sich spüren.
In Kleinkindern kann man die Alpharolle meist sehen, sobald sie mit einem Baby in Berührung kommen. Wie selbstverständlich weckt dieses abhängige Wesen die Fürsorge im größeren Kind.
Es gibt Kinder, die schnell die führende Rolle annehmen. Sie kümmern sich um die Beziehung, wenn das Angebot nicht ausreichend da ist. Das Kind fängt dann an, für die Beziehung zu arbeiten und die Verantwortung zu übernehmen.
Sind die Eltern immer gestresst und hat das Kind den Eindruck, es müsse ihnen helfen, auch dann rutscht es schnell in die falsche Rolle.
Wird das Kind als „zu viel“ empfunden, kann es ebenfalls passieren, dass das Kind sich bemüht „leichter zu sein.“
Meine Tochter übernimmt ganz schnell die Verantwortung, wenn sie merkt, dass ich nicht ganz fit bin und ihr Fels in der Brandung zu wackeln beginnt.
Sehr intensiv fühlende Kinder rutschen schnell in die Alpharolle. Für sie ist das Leben zu verletzlich, und sie haben Schwierigkeiten, sich in einer Beziehung fallen zu lassen.
Es gibt unzählige Gründe, wieso ein Kind in die Verantwortung übernimmt. So kommt es nie richtig zur Ruhe, um zu reifen.
Viele Menschen sind in dieser fürsorglichen Rolle steckengeblieben. Ich muss gestehen, dass ich in fast allen meinen Beziehungen diesen Part innehabe.
Ich bin die, zu der alle mit ihren Problemen kommen, die sich kümmert, usw. Dass ich mich selbst mal fallenlasse kommt sehr selten vor. Erst jetzt, wo ich darum weiß, kann ich bewusst gegensteuern.
Übernimmt das Kind die Verantwortung für die Beziehung, dann steht dies der echten Reifung des Kindes im Weg, führt alleine aber nicht zu tyrannischem Verhalten.
Kinder mit tyrannischem Verhalten zeigen eine weitere Komponente.
Sie sind gegen verletzliche Gefühle gepanzert.
Irgendwo in ihrem Leben wurde die Verletzlichkeit zu groß und ihr Gehirn schützt sie vor diesen Gefühlen. So können sie auch keine Fürsorge mehr spüren oder leben.
Temporäre Panzerungen sind völlig normal, gesund und auch wichtig. Ist ein Kind aber gegen diese verletzlichen Gefühle dauerhaft gepanzert, spricht Gordon Neufeld von einer emotionalen Verhärtung.
Ein Kind, das seine Trauer nicht mehr spürt, wird seine Frustration über aggressives Verhalten ausdrücken.
Es kann nicht mehr zu seinen Tränen geführt werden. So ist meine Frage bei schwierigem Verhalten immer: „Weint ihr Kind? Kann das Kind seine Trauer spüren? Sagt es Dinge wie: ich vermisse, ich bin traurig, ich bin enttäuscht? Kann es Scham spüren?“
Das Fehlen von verletzlichen Gefühlen führt zu vielen verschiedenen Problemen, die ich hier nicht weiter beleuchten kann.
In Kombination mit einem im Alpha steckengebliebenem Kind kann es zu tyrannischem Verhalten führen.
Wie immer bei dem Neufeld-Paradigma geht es nicht darum, sich anzusehen, wie ein Tyrann handelt. Es geht viel mehr darum durch die entwicklungspsychologische Brille zu schauen und zu sehen, was dem Kind fehlt. Nicht Lösungen, sondern Einsichten werden gebraucht.
Nach dieser Erklärung wurde mir so deutlich, was diese Kinder brauchen. Was uns aber so schwer fällt zu geben.
Kinder mit tyrannischem Verhalten wirken cool, abstoßend und souverän.
Versteht man die Thematik dahinter merkt man, dass gerade sie, viel Sicherheit, Verständnis und Liebe benötigen, um ihr Herz wieder weich werden zu lassen und eine Reifung überhaupt zu ermöglichen. Das geht nicht ohne eine fürsorgliche erwachsene Person, die die Verantwortung für die Beziehung übernimmt.
Das hört sich einfach an, ist aber in der Praxis oft herausfordernd.
Es handelt sich nicht um ein Verhaltensproblem, sondern um ein instinktives, tief emotionales Problem.
Denn eigentlich ist die Fürsorge für andere sehr tief in uns verankert, wie auch in jedem Säugetier. Wir müssen nicht beigebracht bekommen, uns um andere zu sorgen und uns umsorgen zu lassen. Abhängigkeit wird in unserer Gesellschaft kaum akzeptiert. Früher und früher erziehen wir unsere Kinder zur Unabhängigkeit.
“Caretaking is absolutely deep and instinctive in every single mammal! We do not have to be taught to care for each other” (Gordon Neufeld)
Wenn die Panzerungen dauerhaft sind, bleiben die Alphainstinkte im Kind übrig, ohne die natürliche Verbindung mit den Gefühlen, zu versorgen und uns verantwortlich zu fühlen. Beste Voraussetuzungen für tyrannisches Verhalten.
Der Alphainsinkt (dominieren) ohne die Gefühle zur Fürsorge und zur Verantwortung (wozu der Alphainstinkt ursprünglich gedacht war) öffnet das Tor zu tyrannischem Verhalten.
“Instincts to dominate but they are no longer associated with their intended biological evolutionary function which is to take care of and take responsibly for.” (Gordon Neufeld)
Bully Instinct! Moved to exploid that vulnerability.
Er definiert also den “Bully-instinct” damit: Bewegt sein, Schwäche auszunutzen. In dem „bewegt sein“ steckt der emotionale Ursprung.
Das Kind wird von seinen Emotionen bewegt, die Schwächen anderer auszunutzen. Es ist keine Entscheidung, andere zu mobben.
Vorherrschende Ansätze adressieren das Verhalten und nicht die Wurzel.
Gibt es ein Vorbeugen, so dass erst gar kein tyrannisches Verhalten entsteht? Im Video ist von einer „Tyrannen Geburtskontrolle“ (bully birth control) die Rede:
Sicherstellen, dass wir den Alphakomplex an der Wurzel adressieren und dass sich unsere Kinder nicht gegen verletzliche Gefühle panzern müssen.
Es für unsere Kinder sicher machen, sich auf uns zu verlassen, die fürsorgliche Alpharolle übernehmen und ihnen helfen, ihre verletzlichen Gefühle zuzulassen.
Kurzgefasst: Richtige Bindungen und weiche Herzen.
Nicht Härte und Konsequenz.
Unmaking of the bully is an issue of 2 factors: right relationships and soft hearts
Ich habe lange gezögert, diesen Artikel zu veröffentlichen. Es erschien mir nahezu unmöglich in so wenigen Worten verständlich zusammenzufassen, was ich in den letzten Jahren zu dem Thema gelesen habe. Ich habe es versucht und freue mich auf Rückfragen. Um weitere Einsichten zu erlangen empfehle ich wärmstens das oben verlinkte Video von Gordon Neufeld.
Wenn du dein Kind unter 7 Jahren gut durch die Trennung begleiten willst und nicht sicher bist, wie das geht, hol dir hier mein Video für 0 €.
Danke dir für diesen Artikel. Ich habe meinen Sohn (wird in drei Wochen 5) darin wiedererkannt und musste bei dem Absatz mit der Panzerung heulen. Ich habe Sorge dass er darin stecken geblieben ist. Er weint kaum, sagt nicht wenn er traurig iet etc. Wenn man es aus ihm raus kitzeln will, lenkt er von sich aus auf was anderes oder sagt „ich weiß nicht“. Man sieht es ihm deutlich an dass da was ist was raus muss aber ich weiß nicht wie. Kannst du da helfen? Mich belastet das mittlerweile so 🙁
Hallo Susanne,
Welcome to the club!
Genau da sind wir auch.
Was bei uns ein bisschen hilft ist, dem Kind zu sagen, wie wir denken, dass es fuehlt, z. B. Ich glaube, dass du gerade etwas traurig bist, weil du dich einsam fuehlst…
Viel Glueck!
Maria
Danke fürs Teilen deine Erfahrung, Maria. Das hilft sicher einigen Leser*innen.
Der Kommentar ging irgendwie an mir vorbei. Ich sehe ihn leider erst heute. Die Sache mit dem Rauskitzeln ist so eine Sache. Je mehr in einer Wunde herumgewühlt wird, desto mehr verschließt sie sich. Tatsächlich hilft hier meist nur Ruhe, Spiel und viel Geduld und Geborgenheit. Oft wissen Kinder selbst nicht, was los ist.
Tatsächlich müssen wir auch gar nicht wissen, was genau die Ursache ist. Es reicht eigentlich, wenn das Kind seine Gefühle ausdrücken kann, das klappt oft im Spiel am besten. Eltern können Geschichten vorlesen oder noch besser, erzählen. Irgendetwas mit dem das Kind sich identifizieren kann. Ein kleiner Marienkäfer o.ä. dessen Alltag dem des Kindes ähnelt. Ansonsten sind Rollenspiele oder Spiele mit Kuscheltieren oft hilfreich. Da hat aber jedes Kind seine eigenen Vorlieben.
Bewegen, Singen, Tanzen, Malen…alles, wobei Emotionen bewegt werden. Eltern können ihren Kindern von ihren Erlebnissen in der Kindheit erzählen und so dem Kind zeigen, dass es „normal“ ist so oder so zu fühlen. Und dass es ok ist.
Abkürzungen, in dem wir Themen direkt ansprechen sorgen meist zu Umwegen. Wenn die Bedingungen gut sind (Geborgenheit, Ruhe, Spiel) macht die Natur, was sie soll…aber das dauert und sich kein Sprint.
Guten Tag,
Immer wieder bekommen wir zu hören, dass unser Kind in der Gruppe nicht funktioniert. Zuhause kommen wir gut mit ihm klar, merken aber deuzlich, dass in KiGa und mittlerweile Schulzeiten die Haut bei ihm sehr dünn ist. Drei Jahre lang dürfen wir uns nun schon alles mögliche anhören, das wir falsch machen. Mittlerweile hatten wir einigen Kontakt mit anderen Eltern eines hochbegabten Kindes. Und es ist erschreckend wie ähnlich die Geschichten und Leidenswege dieser Familien der unseren sind. Besonders wenn auch sie Jungs haben.
Unser Eindruck ist zunehmend, dass unser Sohn sich bei uns recht sicher und geborgen fühlt und wir es so schlecht garnicht machen. Er hat in meinen Augen scheinbar das Vertrauen in die Erwachsenen der Außenwelt verloren und geht dort in die Alpharolle. Er geht ganz klar unter großer Angst in die Schule und nur uns zuliebe kommt er dort auch an. Dort ergeht es ihm trotz Schulbegleitung und offenen Lehrern so schlecht, dass er diese nicht als Chef sieht und alles in Frage stellt. Er rastet tfast täglich aus, haut tritt erklettert Möbel. An guten Tagen stört er nur durch unangepasstes Verhalten. Und selten, wenn ihn ein Thema interessiert, sind alle Auffälligkeiten wie von Zauberhand verschwunden und er kann sich an ALLE Regeln halten.
Ich kenne mich mit diesem Alphathema nicht aus, finde es würde die Sache aber zumindest in Teilen erklären. Natürlich spielt die Unterforderung auch noch eine wichtige Rolle. Was sind Ihre Gedanken dazu?
Danke für Ihren Kommentar. Wie so oft, ist der einfachste Weg, den Eltern Vorwürfe zu machen, wenn ein Kind nicht so reinpasst wie gewünscht. Nicht das Kind ist falsch, sondern das Umfeld passt nicht, nur, wie lässt sich das ändern? Wie kommt Ihr Sohn denn mit der Schulbegleitung klar? Haben Sie bereits Diagnosen und werden von einem Kinder- und Jugendpsychiater begleitet?
Wenn die Beziehung zwischen Kindern und Lehrkräften nicht stimmt, kann Schule zur Qual werden. Wie kann daran etwas verändert werden und geht das an dieser konkreten Schule überhaupt? Ist ihr Sohn hochbegabt oder neurodivergent?
Dass früh an Kinder die Erwartung gestellt wird, in Gruppen zurechtzukommen, passt für viele Kinder nicht. Am Ende wollen wir Menschen, die sich entwickeln und selbst kennenlernen. Die wissen, wer sie sind und was sie wollen. Wenn Kinder sich von klein an an Gruppen anpassen, bekommen wir nicht selten einen Einheitsbrei. Gleichzeitig wird das „nicht in Gruppen einfügen können“ direkt als Makel angesehen.
Mit einem besonderen Kind, das nicht einfach so in vorgefertigte Erwartungen passt, haben sie eine ganz besondere Herausforderung, was die Begleitung angeht. Ob ihr Kind Tendenzen dazu hat, in die Alpharolle zu schlüpfen (Verantwortung übernehmen, nicht zu ruhe kommen, weil der Kapitän oder die Kapitänin des Schiffes immer achtsam sein muss) lässt sich auf die Entfernung nicht sagen. Ihr Kind ist nicht das Problem und die Erklärung, sie würden etwas falsch machen in der Erziehung, viel zu einfach gedacht. Alle Eltern machen Fehler und deswegen verhalten sich dennoch nur wenige kinder wie von Ihnen beschrieben. Ihr Sohn leidet und braucht Hilfestellungen und das Gefühl, richtig zu sein. denn nur, weil das Umfeld nicht passt und Lehrkräfte mit ihm nicht klarkommen, heisst das noch lange nicht, dass Ihr Kind „das Problem“ ist. Ganz sicher nicht. Kein Kind ist das Problem. Es hat ein Problem, leider ist es nicht immer leicht, herauszufinden, welches genau und wie ihm geholfen werden kann.