Mein Schulkind hat ständig schlechte Laune, stellen viele Eltern irgendwann fest.
In einigen Bundesländern hat die Schule bereits begonnen. Für viele Erstklässler eine aufregende Zeit.
Dieses Jahr habe ich dieses Ereignis zum ersten Mal so richtig intensiv mitbekommen, da viele Kinder in meinem Bekannten- und Familienkreis eingeschult wurden.
Wenn ich mir den Alltag der Erstklässler so anschaue packt mich wirklich großes Unverständnis und ich komme aus dem Kopfschütteln nicht mehr heraus.
Klar, hatte ich schon viele Diskussionen zu verlässlicher Grundschule, Nachmittagsbetreuung und Ganztagsschulen verfolgt. Aber was das letzten Endes konkret für jedes einzelne Kind bedeutet war mir nicht so klar.
Jedenfalls kenne ich nun unzählige Kinder, die länger arbeiten als ich.
In meinem Artikel darüber, wie Eltern ihren Kindern durch die Schulzeit helfen können habe ich bereits ausgeführt, wie dramatisch es ist, wenn die Schule nie zu Ende ist.
Leider ist das häufig der Fall. Denn selbst wenn die Nachmittagsbetreuung irgendwann mal zu Ende ist, gehen die Probleme am Abend oft weiter.
Es wird über die schlechte Laune der Kinder geklagt und das Wort „Sensibelchen“ habe ich in dem Zusammenhang bereits häufig gehört.
Mal ehrlich liebe Eltern, was erwartet ihr bitteschön, wenn euer Kind acht oder mehr Stunden täglich außer Haus ist und funktionieren muss?
Soll es freudestrahlend am Abend nach Hause kommen und euch gutgelaunt von seinem anstrengenden Tag berichten?
Ganz im Ernst, wieso sollten die Kinder besser gelaunt sein nach einem auslaugenden Tag als wir Erwachsene?
Wir können in der Regel selbst bestimmen, wann wir Pause machen, wann wir aufstehen, einen Kaffee trinken oder uns einen kleinen Spaziergang gönnen.
Plaudern mit Kollegen, mal krank sein oder einfach mal ausruhen.
Unsere Kinder können das alles nicht. Sie sind an einen strikten Plan gebunden, ganz egal was sie eigentlich gerade bräuchten.
Zu meiner Grundschulzeit ging dieser Plan bis 12 Uhr und ich hatte noch genügend Zeit, um mich wichtigeren Dingen zuzuwenden. Heute steht die Schule in vielen Familien im Mittelpunkt.
Es ist so schrecklich einfach und verlockend, die Kinder den ganzen Tag in die Schule zu schicken und die Nachmittagsbetreuung auch gleich auszulagern.
Ach, Stress mit den Hausaufgaben? Einfach weg damit! Schließlich wird ja auch gespielt, irgendwann. Ja genau, irgendwann. Aber wann?
Hier ein Tagesablauf eines Erstklässler, der mich einfach nur den Kopf schütteln lässt:
6.45 wecken
7.15 schnelles Frühstück
7.30 Laufweg zum Bus
8.00 Schulbeginn
13.00 Ende der verlässlichen Grundschule
13.15 Ankunft in der Nachmittagsbetreuung, die mit dem Bus erreicht wird
13.30 Mittagessen
14.00 Hausaufgaben
15.00 Spiel erlaubt (ach hier wird nun auf Knopfdruck gespielt!)
Ab 15.00 Uhr dürfen die Kinder abgeholt werden, die meisten bleiben jedoch bis 16.00 oder 17.00 mindestens in der Betreuung. (in diesem konkreten Fall)
Die Kinder kommen dann nach Hause mit unzähligen Erlebnissen. Viele davon sicher frustrierend, verletzend und einschüchternd.
Die Zeit, um das alles zu verarbeiten gibt es dann selten.
Das hängt natürlich auch noch stark davon ab, auf wen oder was sie zu Hause antreffen.
Werden sie gehört und gesehen und mit ihren Sorgen ernstgenommen oder wird ihr Verhalten in den Vordergrund gestellt und mit Unverständnis reagiert?
In der Schule müssen Kinder nicht selten ihre Scheuklappen hochfahren um überhaupt in dem verletzlichen Umfeld Schule „überleben“ zu können.
Nach der Schule brauchen sie unbedingt einen Ort, an dem sie ihre Schutzschilder fallen lassen, die Ereignisse verarbeiten und wieder zu sich finden können.
Das braucht allerdings auch Zeit. Ich sehe nicht, wo ein Kind, das erst gegen 16 oder 17 Uhr nach Hause kommt noch den Raum finden soll um all die am Morgen ausgelösten Emotionen zu verarbeiten.
Kinder verarbeiten Erlebtes im Spiel.
Dafür benötigt jedes Kind, Raum, Ruhe und Sicherheit. Kein Kind kann auf Knopfdruck spielen.
Ich will hier nicht schwarzmalen. Es gibt sicher Schulen und Betreuungen in denen bedürfnisorientierter mit den Kindern umgegangen wird.
Ich kenne allerdings keine, dennoch möchte ich nicht alle über einen Kamm scheren. Es gibt sehr engagierte Lehrer und Schulen und ich wünsche mir sehr, dass es immer mehr und mehr davon geben wird.
Aber bis dahin kommt für mich nicht in Frage, meine Tochter länger in der Schule zu lassen als nötig.
Nachmittagsbetreuung kommt für mich aktuell nicht in Frage. Ich gehe sogar soweit, zu sagen, dass es meinem Kind wahrscheinlich besser tun wird, zu Hause noch eine halbe Stunde auf mich warten zu müssen, als dass es weiter in einer Riesengruppe Gleichaltriger „aufbewahrt“ wird.
Nochmal: es gibt Schulen, mit vorbildlichen Nachmittagsprogrammen, bei denen nicht von Aufbewahrung die Rede sein kann.
Dennoch auch dann spüre ich, dass ein Kind nach der Schule einen Raum braucht, um das Erlebte zu verarbeiten und zur Ruhe zu kommen – das ist in einer Gruppe Gleichaltriger selten der Fall.
Viele Eltern führen das Argument an, dass ja alle Kinder nach der Schule in die Betreuung gehen würden.
Schließlich passen sich die Kinder ja wunderbar an und kommen, zumindest oberflächlich betrachtet, klar. Außerdem würden sie sich zu Hause nur langweilen, weil alle anderen Kinder ja nicht da wären.
Wenn sich mein Kind irgendwann mal langweilen und keine eigenen Ideen haben sollte, was es mit seiner Zeit anfangen kann, werde ich mir ernsthafte Sorgen machen.
Das wäre dann für mich ein Grund, mein Kind sofort aus der Betreuung zu holen und es mit seiner Langeweile zu konfrontieren.
Denn wenn irgendwann nichts mehr aus einem Kind herauskommt, dann sollte dafür gesorgt werden, dass so wenig wie möglich in es hineingestopft wird. Ein Kind ist doch kein Gefäß, das abgefüllt werden muss bis es voll ist.
Diese Angst vor Langeweile greift schon lange um sich. Als bräuchten die Kinder den ganzen lieben langen Tag Kinder, um bloß nicht alleine kreativ werden zu müssen.
Die Spiele, die in großen Gruppen von Kindern stattfinden ist selten Spiel im entwicklungspsychologischen Sinn. Denn Spiel kann nur da stattfinden, wo es keine Gefahr vor emotionalen Verletzungen gibt. Das ist in einem solchen Umfeld so gut wie nie der Fall.
Viele Kinder sind bereits so stark an den Gleichaltrigen orientiert, dass Eltern sich langfristig einen Gefallen tun würden, wieder mehr Raum im Leben der Kinder einzunehmen.
Wir geben mehr und mehr Verantwortung ab.
Die Fremdbetreuung startet früher und früher. Am liebsten sollen die Erzieher dafür sorgen, dass unser Kind funktioniert und sobald es Probleme mit der Schule gibt, schicken wir die Kinder einfach in die Nachmittagsbetreuung.
Die Damen oder Herren dort können sich dann auch gleich noch um die Hausaufgaben kümmern.
Ich würde mir wünschen, dass Eltern wieder mehr in ihre eigenen Hände nehmen würden.
Denn kein Experte weiß besser, was unsere Kinder brauchen.
Viele Eltern sind auf lange Betreuungszeiten angewiesen, aus den verschiedensten Gründen. Ich bin alleinerziehend und alleine für alles verantwortlich.
Ich verstehe dieses Argument. Trotzdem sehe ich Möglichkeiten, wie man die Zeit, die das Kind außer Haus, meist in großen Gruppen Gleichaltriger, verbringt, verkürzen könnte.
Eventuell kann man sich mit anderen Eltern zusammentun, das dritte Jahr Elternzeit nehmen oder die Arbeitszeit verkürzen. Vielleicht gibt es auch eine nette Nachbarin, die an einem Tag einspringen kann.
Ich bin mir sicher, es fällt jedem eine Möglichkeit ein, wie der Nachmittag des Kindes gestaltet werden kann, ohne dass es jeden Tag bis 17 Uhr in die Betreuung gehen muss. Selbst wenn es nur an zwei Tagen anders sein kann, könnte das bereits einen entscheidenden Unterschied machen.
Und wenn wir schon an der Situation nichts ändern können, dann doch mindestens an unserer Haltung. Jedes Kind hat nach einem solch herausfordernden Tag mindestens das Recht auf Wutausbrüche, schlechte Laune und Frustration.
Dann lasst uns doch wenigstens der Ort sein, an dem unsere Kinder ihren Emotionen freien Lauf lassen können.
Das Verhalten sollte nicht im Mittelpunkt stehen, sondern die Ursache dafür. Aber wie so oft ist es einfacher, das Kind für sein Verhalten verantwortlich zu machen, anstatt genau hinzuschauen.
Liebe Andrea,
vielen, vielen Dank für diesen tollen Artikel!! Genau das sind auch meine Beobachtungen als Erzieherhelferin in Kitas -Krippe, Kindergarten, Vorschule und 1999 Hort – und Stiefmutter eines fast 9 jährigen Hortkindes und seiner Freunde. Ganz toll und detailliert haben Sie beschrieben, was es für ein stressiger Tag für die Kinder ist und sie spätnachmittags/abends immer noch funktionieren sollen, damit die Eltern keinen Stress haben, die ebenfalls gestresst von der Arbeit kommen. Ich setze mich seit 2015 intensiv mit der Bindungs-und Stressforschung auseinander, arbeite gerade daran an einem Buchprojekt, eigentlicht ging es hier „nur“ um die Ganztagsbetreuung in Kitas, aber jetzt erweitere, um auch auf die Problematik mit den Ganztagsschulen aufmerksam zu machen. Durch einen Kommentar auf facebook mit dem geposteten Link, habe ich Ihre Seite entdeckt und stimme Ihnen voll und ganz zu. Viele Grüße Iris
Ich stimme dem überwiegend zu, aber was ist mit Kindern, die länger im Hort bleiben wollen, gerade weil sie viel mit ihren Freunden spielen wollen. Ich habe viel Zeit für meine Kinder, mein Sohn meckert trotzdem, wenn ich vor 15 Uhr auftauche…
Hallo Susann, Grundsätzlich meckern Kinder, wenn sie aus dem Spiel gerissen werden. Für uns ist es mittlerweile normal, dass Gleichaltrige eine solch große Wichtigkeit eingenommen haben. Natürlich ist dies jedoch nicht. Eigentlich sind Kinder mal um die Erwachsenen gekreist und wurden nicht sich selbst in Kindergruppen überlassen. Wenn dich das Thema interessiert, empfehle ich dir „“Unsere Kinder brauchen uns“ von Gordon Neufeld und Gabor Maté. Hier hab ich das Thema mal kurz angerissen: https://mit-kindern-reifen.de/kinder-brauchen-kinder-ist-das-so/
Kinder wissen sehr genau, was sie wollen, aber was sie brauchen nicht immer so klar.
ich finde den Artikel auch gut, weil er einen wahren und wunden Punkt anspricht. Kinder müsse heute funktionieren, damit die Eltern selbst auch im Sinne der Volkswirtschaft funktionieren können und einer möglichst (Vollzeit-) Erwerbsarbeit nachkommen können. Care-Arbeit (sei es in Form von Kinderbetreuung oder Pflege Angehöriger) sollte genauso geschätzt und vergleichbar vergütet werden wir Erwerbsarbeit. dann müsste sie auch nicht zunehmend auf Externe (Hört, OGS etc) verlagert werden, die absehbar ohnehin nicht ausreichend personelle Ressourcen haben. Und dies täte auch dem Sozialen Miteinander innerhalb der Familien gut.
In einem Punkt gebe ich der Autorin aber nicht Recht: Kinder brauchen ab einem bestimmten Alter vorwiegend Kinder um sich herum. es wäre falsch, wenn wir Eltern uns da zu sehr in den Vordergrund drängen. Eltern sollten immer ein offenes Ohr und Zeit für ihr Kind haben, aber müssen nicht Spielgefährte sein. ich habe früher nach Schulschluss auch nicht Zeit mit meinen Eltern verbracht, sondern mit den Kindern aus der Nachbarschaft. Wichtig ist, dass die Kinder wählen können, ob sie Rückzug brauchen oder ob sie mit Kindern spielen möchten und vor allem mit welchen Kindern. Im Hort ist beides nicht möglich. dort gibt es kaum Rückzug und dir Kinder bilden eine Zwangsgemeinschaft. Dadurch dass aber die Nachmittagsbetreuung stärker in Anspruch genommen bzw viele Kinder nachmittags von einer Aktivität zur nächsten gefahren werden, gibt es kaum noch Nachbarskinder zum Spielen.
Vielen Dank für Ihren Kommentar. Genau das ist das Dilemma, weil viele ihre Kinder bis Abends betreuen lassen, bleibt Eltern kaum noch eine andere Möglichkeit, als mitzumachen.
Wie viel einfacher wäre das Leben, wenn sich ein paar Familien zusammentun würden deren Kinder (unterschiedlicher Altersgruppen) an den Nachmittagen Zeit miteinander verbringen würden? So könnten die Familien sich abwechseln und die Kinder hätten immer Kinder zum Spielen. Zumal die Kinder sich ab einem gewissen Alter selbst organisieren und man sie nur noch zu den Mahlzeiten sieht:-) Zum Glück leben wir hier in einer Gegend, in der das noch geht.